Auf Schritt und Tritt auf den Spuren der Geschichte

Seit fast 27 Stunden bin ich unterwegs, habe mich durch die Nacht gequält, laufend und gehend. Es ist Sonntagmorgen, der 13. August 2017. Einige hundert Meter vor mir traben Frauen und Männer die Bernauer Straße in Berlin hoch zum Mauerpark. Alle tragen eine Startnummer, so wie ich. Obwohl ich hundemüde bin, versuche ich zu ihnen aufzuschließen. Tatsächlich verringert sich der Abstand zu den Vorauslaufenden. Die rote Ampel an der Brunnenstraße verbietet mir das Weiterlaufen. Ich halte mich daran, denn ich will nicht riskieren, disqualifiziert zu werden. Die Regeln beim Mauerweglauf, den 100MeilenBerlin, sind streng. Die LG Mauerweg Berlin e.V. will als Veranstalter keine Verkehrsopfer unter den mehr als 400 Sportlern beklagen.

Bei grün trabe ich wieder an und versuche meine Konkurrenten einzuholen. Ich weiß, dass ich sicher im Ziel ankommen werde – wenn auch nicht mit der angestrebten Zeit von weniger als 24 Stunden. Aber das stört mich nicht, denn ich werde auf jeden Fall meine Zeit vom Vorjahr verbessern. 2016 hatte ich knapp 29 Stunden gebraucht. Auch in diesem Jahr machte mir die Müdigkeit in den Nachtstunden schwer zu schaffen.

Zum vierten Mal bin ich bei diesem Wettkampf dabei, einem Ultramarathon auf dem Berliner Mauerweg, bei dem über eine Distanz von fast 161 Kilometern das alte West-Berlin umrundet wird. Gestern um sechs Uhr fiel das Startsignal.

Im Frühjahr hatte ich mir für den Höhepunkt der Laufsaison überlegt, keinen Trainingsplan stur abzuarbeiten, sondern intuitiv zu trainieren, so wie in den Jahren zuvor. Denn ich bin kein Profisportler, sondern suche nur die Herausforderung und will die Grenzen der eigenen körperlichen und mentalen Leistungsfähigkeit erweitern. Die langen Distanzen plante ich als Wander- und Lauftouren im Urlaub auf La Palma, zusätzlich einen Ultramarathon in Thüringen und einen mehrtägigen Etappenlauf von Berlin nach Rügen.

27 Verpflegungspunkte am Mauerweg machen den Lauf auf dem Berliner Mauerweg erst möglich. (Quelle: LG Mauerweg Berlin e.V., Open Streetmap)
27 Verpflegungspunkte entlang des Mauerwegs machen den Lauf auf dem Berliner Mauerweg erst möglich. (Quelle: LG Mauerweg Berlin e.V., Open Streetmap)

Bis zum Start der 100Meilen 2017 hatte ich rund 1.240 Kilometer in den Beinen. Im Vergleich dazu waren es 2011 bei der Premiere dieses Rennens 730 Kilometer mehr. Damals lief ich gemeinsam mit Sabine Marré aus Königs Wusterhausen in 22:05 Stunden ins Ziel. Es ist eben ein Unterschied, ob man mit einer Sportkameradin diese Strecke meistern will oder wie ich zum wiederholten Mal allein unterwegs ist. Doch der Reihe nach:

Die Stimmung ist ausgelassen um viertel nach fünf am Morgen des 12. August 2017. Ich habe noch eine dreiviertel Stunde Zeit bis zum Start der sechsten Auflage des Rennens. Auch wenn die meisten noch etwas verschlafen drein blicken, sind sie gut gelaunt.

Ich entdecke viele Bekannte, unter anderem Joe Kelbel, den ich vor wenigen Wochen in Fröttstädt beim ThüringenUltra getroffen hatte. Joe schreibt viel über seine Laufabenteuer für die Websites marathon4you.de und für trailrunning.de. 2016 veröffentlichte er sein erstes Buch. Inzwischen ist sein zweites Buch erschienen. Joe ist regelmäßig in exotischen Ländern der Welt unterwegs.
Heißer Tee, Kaffee und frisch belegte Brötchen wecken die müden Lebensgeister der Läuferinnen und Läufer. Viel zu schnell vergeht die Zeit, denn ich hätte noch gern mit dem einen oder anderen gesprochen. Dann stehen wir auch schon im Startblock und werden pünktlich um sechs Uhr auf die Reise auf den Berliner Mauerweg geschickt.

Ich achte zunächst nicht auf das Tempo und lasse mich mitreißen. Es fühlt sich alles locker an. Ich bin überzeugt, gut vorbereitet zu sein. In allen ungeraden Jahren führt die Strecke gegen den Uhrzeigersinn zunächst nach Norden. In geraden Jahren führt die Strecke anders herum. Den erste Verpflegungspunkt nach knapp sieben Kilometern erreiche ich nach etwa 43 Minuten. Damit bin ich deutlich schneller als geplant unterwegs.

Etwa eine halbe Stunde später frage ich den Läufer neben mir, welches Tempo seine GPS-Uhr anzeigt.

»Sechs-zwanzig«, antwortet er mir.

Das ist zwar immer noch zu schnell für mich, aber meine Beine fühlen sich locker an, so dass ich überzeugt bin, das Tempo noch lange beibehalten zu können. Die folgenden Kilometer hangeln wir uns von Verpflegungspunkt zu Verpflegungspunkt, die aus Marktständen aufgebaut sind. So bleiben die angebotenen Speisen und Getränke vor Wind und Wetter geschützt.

Die Verpflegung an den Marktständen ist grandios. Sie reicht von frischem Obst über deftige Schmalzstullen bis zu selbst gebackenen Kuchen. Auch an Getränken gibt es reichlich Auswahl. Ich bleibe bei Wasser, das mir die freundlichen Helferinnen und Helfer in meine Trinkflaschen füllen und genehmige mir gelegentlich einen Becher isotonisches Erfrischungsgetränk. Siebenundzwanzig Verpflegungspunkte im Abstand zwischen vier und sieben Kilometer säumen die Strecke. Erst durch die ehrenamtliche Arbeit von rund vierhundert Helfern ist dieser Ultra-Laufspaß überhaupt möglich.

Auf den ersten Kilometern komme ich mit einem Berufssoldaten ins Gespräch. Er war längere Zeit in Mali stationiert. Wir diskutieren über die weltpolitische Lage. Er ist überzeugt, als Soldat in Mali das Richtige getan zu haben. Er erzählt, dass es unter anderem zu seinen Aufgaben gehörte, den Schulweg der Kinder zu sichern.

Bei Kilometer zehn im Pankower Ortsteil Rosenthal, dem Ort an dem Dorit Schmiel bei ihrem Fluchtversuch in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar 1962 erschossen wurde, haben die Veranstalter eine provisorische Gedenkstehle errichtet. Wir Sportler legen eine Rose nieder und halten kurz inne.
Der Mauerweglauf ist immer einem anderen Maueropfer gewidmet. So halten die Organisatoren und wir Sportler die Erinnerung an das Unrecht der Berliner Mauer und der Teilung Europas wach.
Als wir weiterlaufen, setzen wir unsere Diskussion fort. Auch sein Sohn ist inzwischen zu uns gestoßen. Er begleitet uns mit dem Fahrrad. Bald aber verliere ich die beiden aus den Augen. Inzwischen hat es angefangen zu regnen. Zum Glück ist es feiner Regen.

Wie wichtig es ist, unterwegs zu essen, bekomme ich nach der vierten Verpflegungsstation am Naturschutzturm zu spüren. Zwischendurch treffe ich Vereinskamerad Jörn Künstner. Ich kenne ihn seit 2015, als wir gemeinsam beim Ludwig-Leichhardt-Trail, einem Ultra-Marathon über eine Distanz von knapp 52 Kilometern, liefen. Kurz vor Frohnau, bei Kilometer 30, habe ich an einem leichten Anstieg das Gefühl, als hätte mir jemand den Stecker gezogen.

Zum Glück ist es nicht mehr weit bis zur nächsten Verpflegungsstation, wo ich reichlich esse: Schmalz- und Wurststullen, etwas Obst, frische Tomaten. Eine weitere kleine Scheibe Brot nehme ich auf die Hand und mache mich wieder auf den Weg. Jörn sehe ich weit vor mir auf der Strecke.

Kurz vor Hennigsdorf treffe ich ihn wieder. Er ist ziemlich flott unterwegs. Bis zum Ruderclub Oberhavel, dem Wechselpunkt der Staffelläufer bei Kilometer 33 bleiben wir zusammen. Jörn ist in bester Form. Mir ist klar, dass ich bei seinem Tempo auf Dauer nicht mithalten kann. Wenige Kilometer nach dem Wechselpunkt drossele ich meine Laufgeschwindigkeit. Da ich ohne GPS-Uhr unterwegs bin und nur schätzen kann, vermute ich, dass ich etwa sieben Minuten pro Kilometer laufe. Dazu habe ich eine Marschtabelle mit verschiedenen Geschwindigkeiten dabei. Das erleichtert mir das Schätzen.

»Eigentlich läufst du genau nach Plan«, sagt mir meine innere Stimme, als ich am nächsten Verpflegungspunkt am Grenzturm Nieder Neuendorf bei Kilometer 39 meine Zeit auf der Uhr mit den notierten Zeiten in der Marschtabelle vergleiche. Grob geschätzt bin ich bis dorthin im Durchschnitt etwa sechs Minuten und 40 Sekunden pro Kilometer gelaufen. Ich beschließe, die Geschwindigkeit weiter zu verringern. Denn bis zum nächsten Wechselpunkt der Staffelläufer sind es etwas mehr als 30 Kilometer. Dort habe ich meine Nachtausrüstung deponieren lassen. Dazwischen liegen aber noch vier weitere Verpflegungspunkte. Im Nieselregen lasse ich die vergangenen Monate Revue passieren.

Das Training war nicht immer einfach. Zum Jahresanfang war ich kaum motiviert. In den ersten drei Monaten hatte ich knapp 360 Trainingskilometer gesammelt, darunter einen Mini-Ultramarathon über eine Distanz von 44 Kilometern beim XXL-Lauftreff der LG Mauerweg. Die Lauftreffs dieser Art veranstaltet der Verein einmal monatlich. Ich bin Mitglied in diesem Verein. Er bietet viele gute Gelegenheiten, zusammen in der Gemeinschaft größere Distanzen zurückzulegen und dazu gibt es Verpflegung entlang der Strecke.

Im April lief ich etwas mehr als 120 Kilometer, im Mai fast doppelt so viel. Im Urlaub auf La Palma wollte ich viele Kilometer und Höhenmeter sammeln, als Vorbereitung auf den ThüringenUltra, dem 100 Kilometer langen Ultramarathon rund um den Großen Inselsberg mit mehr als 2000 Höhenmetern. Diesen Ultramarathon hatte ich als Trainingswettkampf im Plan, der mich für die 100 Meilen ebenso fit machen sollte wie der geplante Etappenlauf von Berlin nach Rügen.

Es sind noch gut 15 Kilometer bis zum Schloss Sacrow. Ich motiviere mich, weiter zu traben, indem ich über die Laufabenteuer nachdenke, die ich in diesem Jahr erlebt hatte. Vor allem waren es die Landschaften und die Vegetation auf La Palma die mich beeindruckten.